Objekt des Monats Juni 2024

Waldstummelschwanz Xenicus longipes stokesii

Jedes Jahr im Dezember stellt Dr. Thassilo Franke im Rahmen unserer Vortragsreihe neue »Coole Tiere hautnah« vor und sucht die passenden Kandidaten mit Hilfe der ZSM-Mitarbeiter aus den Magazinen. Auf seiner »Wunschliste« zum Thema Planetary Health stand auch ein kleiner, sehr ursprünglicher neuseeländischer Singvogel, der Felsenstummelschwanz Xenicus gilviventris. Leider war diese Art nicht vorhanden – dafür aber ein naher Verwandter, der 1972 letztmals beobachtete und seither als ausgestorben gelistete Waldstummelschwanz Xenicus longipes!

Der etwas an einen Zaunkönig erinnernde kleine Vogel kam in drei Unterarten auf Neuseeland vor:

Xenicus l. longipes auf der Südinsel
Xenicus l. stokesii auf der Nordinsel
Xenicus l. variabilis auf Steward Island und anderen vorgelagerten Inseln

Die beiden Bälge der ZSM sind als Xenicus stokesii beschriftet und wurden laut dem handschriftlichen Etikett von Julius von Haast im Juli 1874 bei »Taipo« gesammelt. Es gibt mehrere mögliche Lokalitäten (Ortschaften, Flußsysteme und Berge) auf der Süd- und Nordinsel mit diesem Namen – und es ist fraglich, ob tatsächlich eine dieser Lokalitäten gemeint ist oder ob von Haasts Handschrift auch andere Deutungen möglich macht.

Julius von Haast war ein Geologe und Paläontologe. 1858 ließ er Frau und Sohn in Deutschland zurück, um im Auftrag der Londoner Reederei Willis Gann & Co nach Neuseeland zu reisen und die Eignung der britischen Kolonie für deutsche Einwanderer zu prüfen. Er arbeitete zuerst auf der Nordinsel, ab 1861 auf der Südinsel. 1863 gründete Haast das Canterbury Museum, in dem sich auch eine Sammlung neuseeländischer Vogelarten befindet.

Ein mit der Art befasster Biologe befand die beiden Bälge nach Fotos eher als zur Nominatform gehörig. Von Haast lebte zur Zeit des Sammeldatums bereits auf der Südinsel, und die auf den Etiketten angegebene Lokalität war nicht eindeutig zuzuordnen. Kann es sich also tatsächlich um die Unterart der Nordinsel handeln? X. l. stokesii ist sehr schlecht in Sammlungen überliefert, weltweit sind lediglich drei erhaltene Bälge bekannt.

Nun, von Haast sollte gewusst haben, auf welcher Insel er die Vögel gesammelt hat. Zusätzlich ergab die Literaturrecherche, dass es sich bei einem in der Balgsammlung im World Museum Liverpool befindlichen Exemplar ebenfalls um ein Exemplar handelt, das von Haast gesammelt wurde- und zwar 1866 in Taupo auf der Nordinsel! Von Haast hat demnach mehrfach von der Südinsel aus Expeditionen auf die Nordinsel unternommen und dabei zumindest zweimal Waldstummelschwänze der lokalen Unterart gesammelt.
Eine Anfrage an den Kollegen in Liverpool und ein Vergleich der drei Etiketten soll weitere Klarheit bringen und damit das 4. und 5. Exemplar für die Wissenschaft absichern.

In diesem Jahr sind unsere beiden Exemplare 150 Jahre alt; sie zeigen, dass Sammlungen Arten über Jahrhunderte erhalten können: für die Forschung, aber auch als Mahnmal für die Zerstörungskraft des Menschen.

3 Fakten über die Familie Stummelschwänze, Acanthisittidae

  • Halbierte Schwestern: Mit vier bekannten und nur noch zwei lebenden Arten bilden die Stummelschwänze (Acanthisittidae) die Schwestergruppe aller anderen Singvögel (Passeriformes). Nach ihrem Aussehen werden sie im Englischen als New Zealand Wrens (Neuseeland-Zaunkönige) bezeichnet. Die deutschen Artnamen kannte man früher als »‍-‍Schlüpfer«, heute als »‍-‍Stummelschwanz«.
  • Tödliche Invasion: Die von Polynesiern und später von Europäern in noch größerer Artenzahl mitgebrachten Raub- und Nagetiere waren der Tod vieler Vogelarten Neuseelands, die durch das Fehlen von Säuger-Prädatoren und Nesträubern kein Flucht- und Abwehrverhalten gegen diese zeigten. Die in Bodennähe lebenden und brütenden Stummelschwanz-Arten nahmen die ökologische Nische von Mäusen ein – und wurden von den eingeführten Wieseln und Hauskatzen auch als solche behandelt! Zwei Arten blieben dabei auf der Strecke.
  • Für die Katz: Neben den drei Unterarten von Xenicus longipes wurde auch der letztlich nur noch auf der zwischen Nord- und Südinsel gelegenen Stephens Island vorkommende, flugunfähige Stephenschlüpfer oder Stephenstummelschwanz (Traversia lyalli) vernichtet. Seine Ausrottung wird oft einem einzigen Individuum zugeschrieben: Tibbles, der Katze des Leuchtturmwärters David Lyall, nach dem die Art benannt wurde. Der ornithologisch interessierte Lyall erkannte glücklicherweise, dass es sich bei der Beute seiner Katze um eine bisher unbeschriebene Art handelte und sammelte sie. 1884 wurde die Art anhand einiger dieser Vögel von Rothschild beschrieben, bereits seit dem Folgejahr gilt sie als ausgerottet. 11 von Tibbles erbeutete Individuen werden bis heute in verschiedenen Museen aufbewahrt und sind die einzigen Zeugen, dass der Stephenschlüpfer je existiert hat.

Auch heute stellen vor allem verwilderte Hauskatzen eine enorme Gefahr für die Biodiversität dar, ganz besonders für endemische Wildtierarten auf Inseln.

Abbildungen

Abb. 1: Unscheinbare kleine Kostbarkeiten aus Neuseeland: die beiden Bälge von Xenicus longipes stokesii. Foto: M. Unsöld

Abb. 2: Die Geschlechter lassen sich äußerlich nicht unterscheiden; hier das besser erhaltene Weibchen, bei dem der kurze Stoß gut sichtbar ist. Foto: M. Unsöld

Abb. 3: Beim Balg des Männchens fallen die langen Läufe auf. Auf dem Etikett wird stokesii als Artname verwendet. Foto: M. Unsöld

Markus Unsöld (Sektion Ornithologie)