Objekt des Monats Juni 2025
Waldbirkenmaus Sicista betulina (Pallas, 1779)
Die Waldbirkenmaus ist ein kleines Nagetier mit einem auffälligen schwarzen Rückenstreifen und einem deutlich mehr als körperlangen Schwanz (Abb 1). Sie ist der einzige in Mitteleuropa vorkommende Vertreter der Springmäuse (Ü.-Fam. Dipodoidea), ist also mit den Wüstenspringmäusen der Gattung Jaculus näher verwandt als mit unseren Wald- oder Gelbhalsmäusen.
Die Waldbirkenmaus galt lange Zeit als eine osteuropäisch-asiatische Tierart, ihr zusammenhängendes Areal erstreckt sich von Polen und den baltischen Staaten aus nach Osten über weite Teile Russlands bis an den Baikalsee. Erst ab den 1930er Jahren wurden kleine, inselartig zersplitterte Subpopulationen westlich dieses Kernareals entdeckt, die als Relikte einer ehemals weiteren Verbreitung im Pleistozän gelten. So waren bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Vorkommen in Ostpreußen, Schleswig-Holstein und Skandinavien bekannt. Dass sich auch in Bayern Reliktpopulationen der Waldbirkenmaus erhalten hatten, damit hatte in der Fachwelt niemand gerechnet. So war es eine ausgesprochene Sensation, als Herman KAHMANN (1906-1990), damals Professor für Zoologie an der LMU München, im Jahr 1951 ein Birkenmausvorkommen im Bayerischen Wald beschrieb und diesen Nachweis mit einem physischen Präparat – also einem Balg (Abb 2) mit dazugehörigem Schädel und Unterkiefer – belegen konnte.
Das Tier war allerdings nicht in einer Falle gefangen worden, vielmehr hatte KAHMANN nach dem Fund eines kugelförmigen Grasnestes, das er der Birkenmaus zuschrieb, im Jahr 1950 eine Exkursion mit Studierenden des Zoologischen Institutes organisiert, die die Region um Altreichenau im südlichen Bayerischen Wald (Abb 3) nach weiteren Nestern absuchen sollten. Ein Nest wurde dabei nicht gefunden, dafür konnte aber eine der Exkursionsteilnehmerinnen am Rand einer Waldwiese bei Altreichenau eine lebende Birkenmaus sichten; sie griff beherzt zu und konnte das Tier unversehrt fangen. Die Maus wurde dann im Zoologischen Institut in München eine Zeitlang lebend gehalten und beobachtet und erst nach ihrem natürlichen Ableben museumstechnisch zu einem Balg- und Schädelpräparat verarbeitet.
Die reaktionsschnelle Mäusefängerin wird von Kahmann in einer Fußnote namentlich erwähnt, und hier ergibt sich die erste Verbindung zur Zoologischen Staatssammlung München: Es handelte sich nämlich um Frau Dr. Gisela MAUERMEIER. Nach einer erfolgreichen Laufbahn als Leistungssportlerin (u.a. Goldmedaille im Diskuswerfen bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin) studierte Frau Mauermeier in München Biologie, nach ihrer Promotion wurde sie 1954 hauptamtliche Leiterin der Bibliothek der Zoologischen Staatssammlung (DILLER 1992). Auch nach ihrer Pensionierung im Jahr 1974 blieb Frau Mauermeier der Staatssammlung eng verbunden und nahm an vielen Veranstaltungen des Hauses teil.
Das Präparat, das sich als wichtiges Belegexemplar in der Zoologischen Staatssammlung befindet, ist Teil der Kollektion KAHMANN. Diese umfangreiche Sammlung aus 6.500 Bälgen und Schädeln, insbesondere von Nagetieren, Insektenfressern und Fledermäusen, hatte Kahmann im Laufe seines ereignisreichen Forscherlebens in Deutschland, Österreich, Italien, auf dem Balkan, auf Kreta, in der Türkei, Israel, Tunesien sowie auf zahlreichen Mittelmeerinseln gesammelt. Im Jahr 1977 übereignete er sie zusammen mit seinen Aufzeichnungen und Reisetagebüchern der Zoologischen Staatssammlung (KRAFT 1992). In Anerkennung dieser großzügigen Spende wurde KAHMANN im Jahr 1981 mit der Ritter-von-Spix-Medaille ausgezeichnet.
Für mehrere Jahrzehnte blieben der Birkenmausfang von 1950 und zwei als Straßenverkehrsopfer aufgefundene Tiere die einzigen Nachweise der Art im Bayerischen Wald, die Waldbirkenmaus galt daher in Bayern als ausgestorben oder verschollen. Erst ab den 2010er Jahren wurde von einem Forscherteam, dem auch der Verfasser dieses Beitrages angehörte, wieder intensiv nach Birkenmäusen im Bayerischen Wald gesucht. Nach ihrer »Wiederentdeckung« im Jahr 2013 im Landkreis Freyung-Grafenau (KRAFT et al. 2013) wissen wir, dass die ostbayerischen Waldbirkenmäuse zu einer größeren Population gehören, die sich – mit Verbreitungslücken – über die gesamte Böhmische Masse im Dreiländereck Deutschland/Tschechien/Österreich erstreckt.
5 Fakten über Waldbirkenmäuse
- Winzling: Mit einem Gewicht von nur 5 – 10 g ist die Waldbirkenmaus neben der Zwergmaus (Micromys minutus) die kleinste Nagetierart Europas. Ihr geringes Körpergewicht ermöglicht es ihr, zur Nahrungssuche (Sämereien und blütenbesuchende Insekten) auf Ähren, Dolden und Rispen zu klettern, ohne dass sich die Pflanzen nach unten biegen. Damit erschließt sich Waldbirkenmäusen ein Micro-Lebensraum, der ansonsten nur der Zwergmaus zugänglich ist.
- Lückenhafte Verbreitung: Das zusammenhängende Areal erstreckt sich über die Wald- und Waldsteppenzone Osteuropas und Asiens. In Mitteleuropa tritt die Birkenmaus als Eiszeitrelikt in Verbreitungsinseln auf, die im Nordwesten bis Dänemark, Norwegen und Schweden und im Südwesten bis nach Vorarlberg reichen. In Deutschland gibt es nur zwei bekannte Vorkommen: im südlichen Bayerischen Wald sowie im Allgäuer Fellhorngebiet. Ein ehemaliges kleinräumiges Vorkommen in Schleswig-Holstein gilt als erloschen.
- Winterschlaf: Als einzige Mäuseart Europas hält die Waldbirkenmaus einen 7 Monate dauernden Winterschlaf, bei dem sie die Hälfte ihres Körpergewichtes verliert.
- Bestandssituation und Gefährdung: Die Waldbirkenmaus gehört in Europa zu den seltensten Kleinsäugerarten. In Bayern gilt sie als stark gefährdet. Wichtigste Gefährdungsursache ist die Bindung an spezielle Lebensräume, insbesondere Moore, Moorwälder und andere Feuchtgebietskomplexe, und damit an Flächen, die in weiten Teilen Europas für die land- und forstwirtschaftliche Nutzung entwässert wurden – ganz ähnliche Probleme wie sie die Bekassine hat, unser Objekt des Monats Mai 2025 . Ein geringes Reproduktionspotenzial (nur ein Wurf pro Jahr) sowie die Fragmentierung des mitteleuropäischen Areals in geografisch isolierte Subpopulationen mit jeweils eigenständiger genetischer Entwicklung tragen ebenfalls zur Gefährdung bei.
- Schwieriger Nachweis: Obwohl die Waldbirkenmaus nicht besonders scheu oder schreckhaft ist – zumindest nach Beobachtungen an gehälterten Tieren – gelingen Fänge mit den üblichen Fallensystemen (Lebend-Kastenfallen oder eingegrabene Bodenfallen) nur sehr schwer. Als erfolgreichste Nachweismethode hat sich daher der Einsatz von Fotofallen erwiesen, deren Focus auf den Nahbereich eingestellt wurde (Abb 8).
Abbildungen
Abb. 1: Eine lebende Waldbirkenmaus mit den arttypischen Merkmalen: schwarzer Aalstrich und mehr als körperlanger Schwanz. Foto: R. Kraft
Abb. 2: Die 1950 gefangene Waldbirkenmaus mit den beiden Etiketten. Foto: M. Unsöld
Abb. 3: Aktuelle Drohnenaufnahme des Lebensraums der 1950 gefangenen Waldbirkenmaus. Foto: R. Kraft
Abb. 4, 5: Waldbirkenmäuse klettern sehr sicher… Foto: R. Kraft
Abb. 6, 7: …selbst in filigraner Vegetation. Foto: R. Kraft
Abb 8: Ein Nachweis der Waldbirkenmaus mit Hilfe der Fotofalle. Foto: Björn Schulz, Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein
Literatur
DILLER, J. (1992): Bibliothek. In: Chronik der Zoologischen Staatssammlung München. – Spixiana Suppl. 17: 163-175.
KAHMANN, H. & W. WACHTENDORF (1951): Das Vorkommen der Birkenmaus (Sicista betulina) im Bayrisch-Böhmischen Wald. – Zool. Jahrb. Abt. Syst. Ökol. Geogr. Tiere 80 (1/2): 123-131.
KRAFT, R. (1992): Sektion Säugetiere. In: Chronik der Zoologischen Staatssammlung München. – Spixiana Suppl. 17: 138-153.
KRAFT, R., MALEC, F., LUDING, H., STILLE, D., HOLLER, J., MÜLLER, J. (2013). Aktuelle Nachweise der Waldbirkenmaus, Sicista betulina (Pallas, 1779) im Bayerischen Wald. Säugetierkundliche Informationen 9: 95-104.
Richard Kraft