Siniotrochus myriodontus

Objekt des Monats März 2024

Siniotrochus myriodontus – ein Kaugummi aus der Tiefsee

Am 19. Mai 2013 coachte Sir Alex Ferguson das letzte Spiel seiner 26 jährigen Karriere als Trainer beim englischen Rekordmeister Manchester United. Wie üblich kaute »Fergie« auch an jenem Abend einen Kaugummi und spuckte ihn, seines Aromas entledigt, achtlos auf den Rasen des Stadions von West Broomwitch Albion. Dieses Ereignis wäre wohl keiner Erwähnung wert gewesen, hätte nicht ein Fan den kleinen weißen Klumpen aus dem Gras geklaubt und kurze Zeit später beim Internetauktionshaus Ebay eingestellt. Ein beigefügtes Foto zeigte das elfenbeinweiße, formlose Gebilde, einer sakralen Reliquie gleich, auf roten Samt gebettet. Auf der, am hölzernen Sockel der kleinen Vitrine montierten, Messingplakette stand zu lesen: »THE LAST GUM – Sir Alex Ferguson – 19.05.2013«. Angeblich erzielte Fergusons ausgespuckter Kaugummi die schwindelerregende Summe von 460.000 Euro.

In den Beständen der Zoologischen Staatssammlung befinden sich hunderte von Objekten, die Sir Alexs Kaugummi zum Verwechseln ähnlich sehen. Die vielen in Alkohol konservierten, amorphen Klumpen könnte man theoretisch in der Kategorie LAST GUM Objekte vereinen, wären in der systematischen Zoologie nicht andere Klassifikationskriterien ausschlaggebend.

Siniotrochus myriodontus

Was diese LAST GUM Tiere gemeinsam haben, ist das Fehlen einer mineralisierten Schale oder eines formgebenden Skeletts. Beispiele dafür sind Nackt- und Ruderschnecken, diverse Blumen- und Manteltiere, sowie manche Seegurken. Der Kontakt mit Alkohol denaturiert das Eiweiß, was einen Schrumpfungsprozess zur Folge hat und letztendlich zum kaugummiartigen Aussehen der entsprechenden Präparate führt.

Seegurken (Holoturidea) sind eine Klasse im Tierstamm der Stachelhäuter (Echinodermata), dem u.a. auch die Seesterne und Seeigel angehören. Letztere verfügen über ein gut ausgebildetes Skelett, wohingegen entsprechende Strukturen bei den Seegurken nur noch rudimentär vorhanden sind. Besonders stark reduziert ist das Skelett der fußlosen Seegurken (Apodida), von denen viele kleinwüchsige Vertreter den schlammigen Boden der Tiefsee durchwühlen.

Eine jener Tiefsee-Seegurken begegnete mir vor einigen Jahren, während einer Objektrecherche für das neue Naturkundemuseum, im Magazin der Sektion Evertebrata varia. In einem mit Alkohol gefülltem Behälter befanden sich zwei mit Wattestopfen verschlossene Glasröhrchen, die je ein unförmiges, weißliches Gebilde enthielten. Gemäß dem beigefügtem Etikett, handelte es sich um Siniotrochus myriodentatus, eine seltene Tiefsee-Seegurke aus der Familie Myriotrochidae. Beide Exemplare stammten aus dem Angolabecken im südlichen Atlantik und wurden im Jahr 2000, anlässlich der DIVA-1 Expedition mit dem Forschungsschiff Meteor, aus über 5000m Tiefe ans Tageslicht befördert. Auf den ersten Blick erinnerten sie in Größe und Gestalt tatsächlich an ausgespuckte Kaugummis. Bei genauerem Hinsehen fiel auf, dass ihre Körperoberfläche mit winzigen weißen »Kringeln« übersät war, vergleichbar mit den Ringen eines mittelalterlichen Kettenhemds. Neben dem Hauptobjekt befand sich eine Mappe mit Mikropräparaten aus der Körperoberfläche. Neugierig geworden, legte ich einen der Objektträger unters Mikroskop und als ich hineinsah, staunte ich nicht schlecht. Was ich da erblickte, glich einem gläsernen Getriebe aus dutzenden ineinandergreifenden Zahnrädern, deren transparente Speichen auf eine siebförmig durchbrochene Nabe zuliefen – ein Bild von geradezu surrealer Ästhetik.

Siniotrochus myriodontus

Bei den Zahnrädern handelt es sich um sogenannte Ossikel, was so viel bedeutet wie »Knöchelchen« und in der Tat sind diese Ossikel Bestandteile des rudimentären Seegurkenskeletts. Wie bei den meisten Bewohnern der Tiefsee, ist auch die Lebensweise von Siniotrochus myriodontus unbekannt. Möglicherweise sind die Ossikel Einzelelemente eines Schutzpanzers, welche den Seegurkenkörper lückenlos bedecken, sobald sich der Hautmuskelschlauch des wurmförmigen Tieres zusammenzieht.

Um Seegurken-Ossikel zu finden, muss man keine Tiefseeexpedition unternehmen. Man begegnet ihnen auch fernab des Meeres, mitten in Bayern. Im April 2021 wurde ein nur zwei Millimeter großer Krümel als Objekt des Monats der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie (BSPG) präsentiert. Eine elektronenmikroskopische Aufnahme zeigt, dass der Krümel aus hunderten miteinander verbackenen, Seegurken-Ossikeln besteht. Wüsste man nicht worum es sich handelt und wie klein das Ganze ist, man könnte an einen Klumpen korrodierter Scheibenfibeln aus einem bronzezeitlichen Grab denken. Das Objekt ist gut 180 Millionen Jahre alt und stammt aus einer Tongrube bei Buttenheim in Mittelfranken.

Siniotrochus myriodontus

Über die genaue Funktion der Seegurken-Ossikel ist bis heute nur wenig bekannt, aber eines steht fest: Sie sind Teil einer evolutionsbiologischen Erfolgsgeschichte, die in den Sedimenten überliefert ist und über 450 Millionen Jahre in die Erdgeschichte zurückreicht.

Auch wenn das hier vorgestellte LAST GUM Objekt vermutlich keine 460.000 Euro auf Ebay erzielen würde, lohnt es sich trotzdem genauer hinzuschauen, denn etwas so Schönes, wie die Zahnrädchen von Siniotrochus myriodontus sucht man auf Alex Fergusons durchgekauter Sport-Reliquie vergeblich – da bin ich mir ganz sicher!

5 Fakten über Seegurken

  • Tiefer geht’s nicht: Alle ca.1800 Seegurkenarten leben ausschließlich im Meer. Man findet sie vom Flachwasser der Gezeitenzone bis in die tiefsten Tiefen der Tiefsee, wo sie Individuendichten von mehreren hundert Tieren pro m³ erreichen können.
  • Fressen mit Tentakeln: Die Mundöffnung der Seegurken wird von fünf Tentakeln umkränzt. Bei Suspensionsfressern, die Schwebstoffe aus dem Wasser filtern, sind die Tentakeln lang und mehrfach verzweigt; bei Detritusfressern, die sich von organischen Bodenpartikeln ernähren, sind die Tentakeln kurz und ähneln kleinen Löffeln.
  • Untermieter im Darm: Eingeweidefische nutzen lebende Seegurken als Behausung. Die schlanken aalartigen Fische leben im Enddarm und der Wasserlunge größerer Seegurken.
  • Bizarre Verteidigung: Viele Seegurkenarten verteidigen sich, indem sie einem Angreifer klebrige Schläuche aus dem Anus entgegenschleudern. Diese sog. Couvierschen Schläuche enthalten bei manchen Arten Giftstoffe. Alternativ können viele Arten ihre inneren Organe ausstoßen. Während sich der Angreifer über die Innereien hermacht, kann die Seegurke das Weite suchen. Die Organe werden innerhalb weniger Wochen regeneriert.
  • Seegurken als Nahrung: In mehreren asiatischen Ländern gelten der Hautmuskelschlauch und die Innereien von Seegurken als Delikatesse. Mehrere Arten sind durch Überfischung gefährdet. Es gibt allerdings erste Bestrebungen Seegurken in Aquakulturen zu züchten.

Bildlegende

Bild 1: Siniotrochus myriodontus Gage & Billett 1986

Bild 2: Siniotrochus myriodontus Gage & Billett 1986, Objektträgermappe mit Mikropräparaten.

Bild 3: Siniotrochus myriodontus Gage & Billett 1986, Ossikel

Bild 4: Siniotrochus myriodontus Gage & Billett 1986, Ossikel im Detail

Mehr über diese bizarren Tiere erfahren Sie im BR2 Podcast »Die Seegurke oder Seewalze – Staubsauger der Meere« (mit Beiträgen des Verfassers)

Thassilo Franke (SNSB)