Objekt des Monats Mai 2024
Carolinasittich Conuropsis carolinensis
Der Zoo von Cincinatti hatte zwischen 1914 und 1918 den Tod der letzten bekannten Individuen zweier ursprünglich sehr häufiger heimischer Vogelarten zu beklagen: Dreieinhalb Jahre nach der Wandertaube »Martha« (1. September 1914) starb der Carolinasittich »Incas«.
Bereits in den 1880ern kam eine Lieferung von 16 Carolinasittichen zum Stückpreis von 2,50 $ in den Zoo, darunter Incas und seine Partnerin »Lady Jane«. Sie überlebten alle anderen und sollten die letzten ihrer Art werden. Im Sommer 1917 starb das Weibchen, und Incas folgte ihr am 14. oder 21. Februar 1918. Damit waren mit Wandertaube und Carolinasittich zwei beeindruckende amerikanische Vogelarten für immer von dieser Erde verschwunden.
Der 30 cm große Carolinasittich war die einzige Papageienart Nordamerikas und besiedelte in zwei Unterarten (Östlicher Carolinasittich, C. c. carolinensis und Westlicher Carolina- oder Louisianasittich C.c. ludovivianus), durch die Appalachen getrennt, die Wälder mehrerer südöstlicher Bundesstaaten. In reißendem Flug durchstreifte er in dichten Schwärmen seinen Lebensraum und suchte nach Samen und Früchten aller Art. Als Höhlenbrüter war er auf alte Baumbestände angewiesen.
Der Carolinasittich wurde zweifellos direkt durch den Menschen ausgerottet. Umstritten ist, ob Lebensraumzerstörung durch europäische Siedler eine große Rolle dabei spielte; Lebensraumveränderung hatte aber massive Auswirkungen auf die Sittiche, denn mit der Anlage von Feldern und Obstplantagen entwickelte sich die Art zu einem Landwirtschaftsschädling und wurde rigoros verfolgt. Die kleinen Papageien machten sich besonders unbeliebt, weil sie hier und da herumknabberten und so im Schwarm große Schäden verursachen konnten.
Den gravierendsten Einfluss hatte sicher die Jagd. Wie leider noch heute gab es »Sportschützen«, die ihrer Schießlust an »lebenden Tontauben« frönten und die geselligen Vögel in Massen vom Himmel holten. Das war bei dieser Art besonders leicht: Carolinasittiche flohen beim Abschuss von Artgenossen nicht, sondern brachten sich durch ihre soziale Natur selbst in Gefahr, wenn sie ihnen »zu Hilfe« kamen. So konnten ganze Schwärme bis zum letzten Vogel abgeknallt werden.
Für den Haustiermarkt wurden jedes Jahr Hunderte bis Tausende Sittiche gefangen. Noch in den 1880ern war die Art so häufig, dass sie für wenige Dollar pro Stück verkauft wurden. Durch eine sehr laute Stimme und die Zerstörungskraft des Schnabels waren die hübschen Papageien zwar keine idealen Haustiere. Als der Rückgang der Art sichtbar wurde, stieg die Nachfrage nach den Vögeln stark an. Sie wurden auch nach Europa exportiert.
Und so hätte der Carolinasittich um ein Haar – bzw. in seinem Fall um eine Feder – die Chance gehabt, als Neozoon in Deutschland zu überleben. In den 1870ern hielt der als einer der Begründer des wissenschaftlichen und praktischen Vogelschutzes berühmt gewordene Hans Freiherr von Berlepsch (1857 – 1933) ein Paar dieser Art in einer Voliere, durch die sich die mit einem starken Schnabel ausgestatteten Papageien durchnagen und entkommen konnten. Doch sie blieben in der Gegend, nutzten einen für sie umgebauten Taubenschlag zur erfolgreichen Brut und als Schlafplatz, an den sie jeden Abend zurückkehrten. Ansonsten lebte der immer größer werdende Schwarm frei und zog weiträumig umher. Immer wieder informierte Berlepsch per Zeitungsanzeigen über seine bunten Vögel. Das funktionierte eine Zeitlang sehr gut, doch eines Winterabends kehrte nur noch die Hälfte der Sittiche zurück; am folgenden Tag kein einziger. Erst Jahrzehnte später erfuhr Berlepsch, was passiert war: in einem etwa 50km entfernten Gasthaus fand er seine Sittiche ausgestopft über dem Kamin. Der Vater des Wirts hatte die auf der Linde vor dem Haus sitzenden Papageien damals einen nach dem anderen abgeschossen – auch hier wurde ihnen ihr stark ausgeprägtes Sozialverhalten zum Verhängnis.
Die drei Präparate der ZSM stammen von zwei Adulttieren und einem noch nicht ausgefärbten Jungvogel. Genauere Fundortdaten als »Nordamerika« gibt es nicht, was dafür spricht, dass sie nicht für eine wissenschaftliche Sammlung vorgesehen waren. Zumindest bei einem Vogel ist das Jahr 1835 angegeben; dieses Individuum wurde aus den USA eingeführt. Es könnte sich um einen für den Ziervogelhandel gefangenen Sittich handeln, der während des Transports verendet ist. Die beiden anderen stammen möglicherweise aus einer Haltung, oder das Importjahr war nicht mehr bekannt.
5 Fakten über den Carolinasittich
- Häufige Rarität: mit über 700 Präparaten ist der Carolinasittich nach der Wandertaube (über 1500) die am zweithäufigsten in den Sammlungen der Welt erhaltene ausgerottete Vogelart.
- Romeo-Irrtum: Noch bis 1938 wurden Sichtungen von Carolinasittichen gemeldet. Einige Spezialisten gehen heute davon aus, dass die Art in Florida, Georgia und South Carolina tatsächlich noch bis in die 1960er überlebt haben könnte. Da sie aber seit dem Tod von Incas im Jahr 1918 als ausgerottet galt, gab es keine Hoffnungen mehr, dass die Spezies noch zu retten sei – wie bei Shakespeares Romeo. Allerdings können die Sichtungen auch auf Verwechslungen mit anderen Papageienarten beruhen, die in der Zwischenzeit aus Haltungen entflogen waren oder freigelassen wurden und wilde Bestände bildeten.
- Eisiges Ende: Nach ihrem Tod wurde »Martha« in einen riesigen Eisblock eingefroren und so zum Smithsonian in Washington geschickt, wo ihr Präparat noch heute zu sehen ist. Mit »Incas« wurde dasselbe Procedere veranstaltet, doch im Gegensatz zur letzten Wandertaube hat der Carolinasittich sein Ziel nie erreicht…
- Lebendige Tote: Die bekannteste und häufig verwendete Carolinasittich-Abbildung ist der lebhafte kleine Schwarm (Abb. 5) von John James Audubon (1785 – 1851). Der Maler hat alle Vogelarten Amerikas in Originalgröße abgemalt und musste die großen Arten dazu in unnatürliche Posen bringen. Tatsächlich hat er genau das gemacht: Seine Werke entstanden nach geschossenen, ausgelegten Vögeln. 2010 erzielte eines der noch etwa 100 erhaltenen Exemplare von »Birds of America« im etwas unhandlichen Format 60 x 90 cm bei Sotheby’s umgerechnet 8,6 Millionen Euro!
- Aus die Laus: Mit dem Carolinasittich starb vermutlich auch mindestens ein wirtsspezifischer Parasit aus, die in der Federspule lebende, blutsaugende Milbe Peristerophila conuropsis, die 2023 an einem Balg der ZSM entdeckt und beschrieben wurde.
Abbildungen
Abb. 1 (Artikelbild): Carolinasittich-Männchen aus der Sammlung der ZSM. Foto: M. Unsöld
Abb. 2: Jungvogel (vorne) und potenzielles Weibchen. Foto: M. Unsöld
Abb. 3: Kopffärbung und –zeichnung bei Alt- (links) und Jungvogel im Vergleich… Foto: M. Unsöld
Abb. 4: …und die beiden Etiketten mit leider sehr wenig Informationen. Foto: M. Unsöld
Abb. 5: Audubons Carolinasittiche auf einer bevorzugten Nahrungspflanze, der Spitzklette.
Literatur
Flannery T, Shouten P (2001) A Gap in Nature. Discovering the World`s extinct Animals. Atlantic Monthly Press, New York
Hume J P (2017) Extinct Birds. Christopher Helm, London, New York
Skoracki M, Unsoeld M, Patan M, Sikora B (2023) Lost companions: a new quill mite species and its possible coextinction with the Carolina parakeet. Parasitology, First View, pp. 1 – 5. DOI: https://doi.org/10.1017/S00311820230013732023
Markus Unsöld