Biodiversität
Biologische Vielfalt
Biodiversität oder biologische Vielfalt bezieht sich auf die Artenvielfalt, genetische Vielfalt und die Vielfalt an Lebensräumen. Noch kennen wir nur einen Teil der Biodiversität, jährlich werden neue Arten entdeckt und beschrieben, viele davon auch von Wissenschaftlern der ZSM. Immer wieder sind darunter auch spektakuläre Arten wie das winzige Stummelschwanzchamäleon Brookesia nana, das mit rund 22 bis 29 mm Gesamtkörperlänge zu den kleinsten Landwirbeltieren überhaupt gehört und im Pandemiejahr 2021 von Dr. Frank Glaw beschrieben wurde.
Doch die Biodiversität ist bedroht: Lebensraumzerstörung, rasante Klimaerwärmung, Monokulturen und Überdüngung sind die Hauptursachen für den Artenschwund. Dadurch sterben nicht nur bereits bekannte Arten aus, sondern auch bislang unbekannte Spezies gehen verloren.
Die Lebewelt der Erde steckt mitten in einer Biodiversitätskrise. Mit zunehmendem Tempo verschwinden Ökosysteme und die dort lebenden Arten global, so dass bereits vom »6. Massenaussterben« gesprochen wird. Auch die Individuenzahlen haben weltweit in allen Lebensräumen abgenommen. Dies ist zumindest bezüglich der mitteleuropäischen Insektenfauna und des kommerziellen Fischfangs nachgewiesen.
Während sich die nun diskutierten Maßnahmen gegen das Artensterben meist auf unmittelbare Aktionen, Grenzwerte und Verbote fokussieren, ist der Beitrag der Wissenschaft und hier insbesondere von Taxonomie (Artentdeckung, -definition und -abgrenzung) und Systematik (Taxonomie, Faunistik / Floristik und Phylogenetik) nach wie vor weitgehend unverstanden oder wird bewusst ignoriert. Dabei gilt: Will man Veränderung messen, braucht es mindestens zwei Messpunkte – vorher und nachher – das gilt auch für die Biodiversitätsdynamik, irrelevant ob es sich um Rückgänge oder Zuwanderung bzw. Einschleppung handelt. Einen dieser notwendigen Messpunkte kann man in der Gegenwart abarbeiten, der zweite und alle übrigen liegen notgedrungen in der Vergangenheit – und das heißt in den Naturkundesammlungen.
Dort hat jedes Sammlungsobjekt, egal ob Herbarbogen, genadelter Käfer, Schneckenschale, Mikroskop- oder Alkoholpräparat, auf dem zugehörigen Etikett neben dem Artnamen auch vermerkt, wann und wo dieser Organismus gesammelt wurde. Damit wird für jedes Sammlungsobjekt ein (überprüfbarer!) Raum-Zeit-Punkt seines Vorkommens verfügbar. Durch die Auswertung vieler solcher Punkte lässt sich nun für jede Art eine Verbreitungskarte in Raum und Zeit erstellen und damit eine wissenschaftliche Grundlage aller daraus abzuleitenden Schutz- oder Bekämpfungsmaßnahmen. Das heißt als Konsequenz: es muss quer durch alle Tiergruppen und Areale kontinuierlich weiter gesammelt werden.
Ein reines Arche-Noah-Prinzip (von jeder Art ein Pärchen) ist für Naturkundesammlungen nicht zielführend. Moderne molekularbiologische Methoden machen es möglich, auch altes Sammlungsmaterial zu untersuchen. Oft zeigt die Überprüfung der gängigen Artenlisten dann, dass auch die taxonomische Grundlage gegenüber der klassischen Morphologie zu korrigieren ist. So waren sogar bei den gut untersuchten deutschen Schmetterlingen und Käfern ca. 4% der Arten revisionsbedürftig. Grundlage für solche Revisionsarbeiten ist der »Typenvergleich«, also ein direkter Vergleich mit jenem historischen Material, welches der ursprünglichen Artbeschreibung zugrunde lag.
Das ist auch im praktischen Naturschutz von Bedeutung: Gerade die Klimaerwärmung und die damit korrelierten Trockensommer sorgen hierzulande aktuell dafür, dass aus der Toleranzbandbreite der Arten (Pflanzen wie Tiere) die eher wärmeliebenden und dürreresistenten Individuen Vorteile haben. Das schränkt als Konsequenz die genetische Variabilität von Arten deutlich ein, selbst wenn es nicht zur völligen Verdrängung bzw. Aussterben einer Art kommt.
Durch den Vergleich mit älterem Sammlungsmaterial lassen sich solche genetischen Einschränkungen, deren Auswirkungen erst ansatzweise verstanden sind, quantitativ und statistisch robust erfassen.
Viele Arten sind aber bereits so stark dezimiert, dass sie einen teilweise auf wenige 100 Individuen begrenzten »genetischen Flaschenhals« darstellen. Solchermaßen genetisch uniformierte Gruppen zeigen als Konsequenz eine deutlich herabgesetzte Widerstandsfähigkeit gegen Epidemien und Infektionen, auch nehmen durch Inzucht schädliche Mutationen stark zu. So lassen sich durch Vergleiche mit alten Sammlungsstücken aus längst nicht mehr existierenden Populationen etwa die relative genetische Diversität von existierenden Individuen von extrem gefährdeten Großsäugern oder Vögeln (z.B. Panzernashorn, Spix-Ara, Schreikranich) ermitteln bzw. einschätzen.
Wissenschaft ist alles, was Wissen schafft. Für die Forschungssammlungen zählt daher neben der Forschungs- auch die Bildungsarbeit bzw. Wissenschaftskommunikation, die Wissen in die breite Bevölkerung transportiert. Hier trifft die Artenkunde auf eine in den letzten 30-50 Jahren erschreckenden Rückgang in Bezug auf Artenkenntnis gleichermaßen in Zoologie, Botanik und Mykologie, der Begriff »Bildungserosion« ist dabei absolut angemessen.
Neben dem Schulunterricht sind daher auch außerschulische Lernorte, wie z.B. Naturkundemuseen als Schaufenster naturkundlicher, wissenschaftlicher Sammlungen gefragt. Ziel muss sein, den Besucher dazu zu bringen, sich eine auf wissenschaftlichen Daten basierende eigene Meinung zu bilden und aus dieser Erkenntnisheraus auch Verhaltensweisen zu verändern und bezüglich Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Erhaltung der Artenvielfalt zu verbessern.
(Prof. Dr. Gerhard Haszprunar im SNSB-Echo 18/19)
In der Zoologischen Staatssammlung München werden etwa 22 Millionen »Tier-Einheiten« – das können Einzelindividuen oder Aufsammlungen einer Art (z.B. Kleinkrebse, Fliegen oder Fische) sein – für die Nachwelt und wissenschaftliche Forschung aufbewahrt. Dafür mussten und müssen die meisten dieser Tiere getötet werden. Das hat verschiedene Gründe
Für die Beschreibung eines neuen Taxons (eine biologische Einheit wie Gattung, Art oder Unterart) müssen ein oder mehrere »Typen« hinterlegt werden. Anhand dieser »Urmeter« eines Taxons können die beschriebenen Merkmale im Idealfall auch noch hunderte Jahre später überprüft werden, z.B. bei der Beschreibung einer nahe verwandten Art.
Durch das globale Aufsammeln und Hinterlegen in Sammlungen mit genauen Daten über einen Zeitraum von mehr als 200 Jahren lässt sich die zeitliche und räumliche Verteilung von Arten nachvollziehen. Das kann wertvolle Grundlagen für den Schutz von Tierarten liefern. So oft man den Satz »nur was man kennt, kann man auch schützen« auch hört, so wahr ist er auch: für einen möglichst effizienten Arten- oder Biotopschutz sind sowohl Artenkenntnis als auch das Wissen um ihre Verbreitung nötig. So wurden durch die Arbeit des ZSM-Herpetologen Dr. Frank Glaw und seines Teams nicht nur über 250 Reptilien- und Amphibienarten Madagaskars neu beschrieben, sondern im Zuge dessen Schutzgebiete ausgewiesen, um diese bisher unbekannten Tierarten vor der Ausrottung, bzw. ihre Lebensräume vor der Zerstörung zu bewahren.
Doch auch andere Informationen lassen sich aus alten Präparaten gewinnen, z.B. die Belastung mit Schwermetallen und anderen Giften, morphologische und genetische Veränderungen über die Zeit und vieles mehr.
Bisher wurde noch keine einzige Art oder Unterart durch das Sammeln für die Wissenschaft ausgerottet. Zwar wurden die letzten bekannten Riesenalken Pinguinus impennis bis 1844 für Museen und private Sammler erlegt, doch der Bestand war zu dieser Zeit bereits durch Verfolgung im großen Stil und Umweltkatastrophen so stark dezimiert, dass der in Kolonien nistende flugunfähige Vogel bereits als »funktionell ausgestorben« zu betrachten war.
Auch viele andere Arten sind heute nur noch als Präparate in Sammlungen erhalten und können als Mahnmal dafür dienen, dass wir besser auf unsere tierischen Mitbewohner achten sollten. In der ZSM werden vier Exemplare der nordamerikanischen Wandertaube Ectopistes migratorius aufbewahrt, die mit geschätzten 4-6 Milliarden Individuen die zahlenmäßig häufigste Vogelart der Welt darstellte und deren Schwärme mit bis zu 2,2 Milliarden Tieren den Himmel verfinsterten. Durch eine ungeregelte industrialisierte Jagd nahmen die Bestände ab, bis schließlich das letzte Exemplar 1914 im Zoo von Cincinnati starb.
Wir kennen wahrscheinlich bisher nur einen Bruchteil der Lebewesen, mit denen wir den Planeten teilen. Ohne die über die letzten drei Jahrhunderte entstandenen zoologischen Sammlungen und die Arbeit von Forschern an den dort gelagerten Präparaten wäre unser Wissen über die Biodiversität praktisch nicht vorhanden. Sammlungen wie die der ZSM werden jedes Jahr von hunderten Wissenschaftlern aus aller Welt genutzt – und jedes Jahr werden tausende neue Arten beschrieben.